Was denke ich von Dir?
9. Brief
Liebe Leonie,
ich kann Dir genügend persönliche Geschichten erzählen, durch welche ich gelernt habe, dass Mentalisierung, das Hineindenken in einen anderen, eine ganz wesentliche Fähigkeit ist, die ein Mensch erlernen sollte. Gerade für Jugendliche ist es oft ein großes Problem, denn sich in den anderen hineinzudenken, ist meistens erst ab dem 16. Lebensjahr oder erst später möglich.
Für mich persönlich ist dieses Hineinversetzen in den anderen ein Thema, das mich sehr lange beschäftigte, da ich jahrelang immer alles persönlich genommen habe. Vieles, was Menschen zu mir sagten, verletzte mich. Ich machte mir viele Gedanken darüber, ob ich etwas falsch gemacht habe oder in bestimmten Situationen anders hätte reagieren sollen. Selten dachte ich darüber nach, ob Gesagtes tatsächlich so gemeint war. Ich kannte diesen sogenannten Realitätscheck nicht. Deshalb durfte ich mühsam lernen, dass es nicht immer um mich geht. Es geht bei der Mentalisierung, oder auch der „Theory of mind“, darum, sich in die innere Welt des anderen hineinzudenken. Es ist die Fähigkeit, das äußerlich wahrnehmbare Verhalten in Verbindung mit den inneren mentalen Zuständen, Gefühlen, Gedanken, Bedürfnissen und Wünschen des anderen zu bringen. Auch die Lebenserfahrung des Gegenübers spielen hier mit hinein.
Liebe Leonie, sich in den anderen hineinzuversetzen ist eine wirklich schwierige Aufgabe, aber durch meine oft leidvollen Erfahrungen kann ich Dir sagen, dass es sich wirklich auszahlt, den anderen verstehen zu lernen. Gerade für Kinder ist es unerlässlich, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um ihnen dadurch unsere Liebe, Fürsorge und Geborgenheit vermitteln zu können. Wenn einer meiner Söhne nach Hause kommt, ich kein Hallo höre und er sich über das Essen beschwert, dann ist es klüger, einmal nicht sofort zu reagieren. Dann es ist besser, ihm Zeit zu geben, sich erst einmal zu erholen, denn nach einer Stunde schaut die Welt oft ganz anders aus. Wenn er nach Hause kommt, ist er oft einfach nur müde, ausgelaugt oder durch den Schulalltag gestresst. Aber auf jeden Fall hat es nichts mit mir oder mit meinen Knödeln zu tun.
Bis nächsten Donnerstag