Geschenktes Herz
80. Brief
Liebe Leonie,
ich dachte immer, das Herz dem anderen zu schenken, sei der größte Liebesbeweis. Wenn ich über meine Zeit mit meinen Kindern so nachdenke, dann wird mir bewusst, dass es gerade die Momente, in denen mein Mann und meine Söhne mir ihr Herz ausschütteten, mir von ihren Freuden, Sorgen und Nöten berichteten, mit zu den erfülltesten in meinen Leben gehörten und hören.
„Sein ist das, was sich nur dem Wohlwollen offenbart.“, schreibt der Philosoph Robert Spaemann in ‚Glück und Wohlwollen‘. Der Text, in dem ich diesen wunderbaren Satz las, erklärt für mich auf wunderbare Art und Weise, dass unser Sein nur durch das Wohlwollen des anderen wirklich wird.
Wohlwollen bedarf jedoch eines wohlen, eines gesunden Herzens. Und darum ist es entscheidend, dass wir für unser Kind bereitstellen, was es für die Entwicklung seines Herzens – für eine gesunde Herzensbildung – braucht. Denn dann, und nur dann kann sein Herz alle sechs Weisen, alle sechs Fähigkeiten, sich zu binden, heranbilden. Der kanadische Entwicklungspsychologe, Professor Dr. Gordon Neufeld, nennt diese Fähigkeiten Bindungswurzeln.
Gesunde Herzensbildung ermöglicht Wohlwollen und macht mein Sein erst wahr. Denn ein verletztes Herz hat zu viel mit sich selbst zu tun, um sehend für den anderen oder gar wohlwollend sein zu können.
Mein Leben, meine Liebe und dadurch mein Sein kann ich darum nur dann in Fülle verwirklichen, wenn mein Herz gebildet, also emotional gesund entwickelt ist. Darum ist es so wichtig, das Eltern ihrem Kind geben, was es für diese Entwicklung braucht. Denn wenn Eltern die Bindungsbedürfnisse ihres Kindes stillen, können nacheinander und aufeinander aufbauend sechs Weisen, sich zu binden, heranwachsen. Durch die DVDs „Zur Reife erziehen“ von Maria Elisabeth Schmidt habe ich sehr viel über Herzensbildung und wie sie heranreift, erfahren. In dieser Erziehungsserie erklärt sie genau, was ein Kind dazu konkret braucht.
Darum ist es so wichtig, dass wir die Herzen der Kinder hüten, dass sie sich immer willkommen fühlen“, so Maria Elisabeth Schmidt in ihrem Video. Und sie lädt uns ein, unserem Kind das größte Geschenk zu machen, das es braucht für seine gedeihliche Entwicklung: Heißen wir es bedingungslos willkommen in unserer Gegenwart, so wie es ist, mit all seinen Unwägbarkeiten. Stillen wir großzügig seine Bindungsbedürfnisse, damit die Bindungswurzeln kräftig und es beziehungsfähig werden kann. Dann wird das Leben unseres Kindes am ehesten gelingen! Und: Dann kann und will es am ehesten auch die Bindung an uns aufrechterhalten, selbst wenn es einmal in die Ferne zieht…
Oder wie es im Artikel heißt: „In der Liebe wird mir der Andere nun so wirklich, wie ich mir selbst in eben diesem Erwachen, werde.“
Bis zum zehnten März
Alles Liebe Deine Maria
PS: Die sechs Bindungswurzeln in aller Kürze:
Bindung hat für das Neugeborene oberste Priorität: Ist die Bindung zur Hauptbezugsperson gesichert (also normalerweise sind das Mama oder Papa), ist sein Überleben gesichert, denn sie sorgen ja für ihr Kind. Darum gerät es auch sofort in Panik, wenn die Bindung (die Versorgung und damit das Überleben) nicht sicher ist. Es muss sich also binden, solange, bis es selbständig genug ist, um alleine sein Überleben sichern zu können!
- Im ersten Lebensjahr ist das Baby nur in der Lage, sich über seine Sinne zu binden, und auch nur über einen Sinn zu einer Zeit. Werden seine Bindungsbedürfnisse von Mama oder Papa (bzw. von seiner Hauptbezugsperson) in ausreichendem Maß gestillt (und nur dann!), kann im zweiten Jahr
- die zweite Wurzel heranwachsen. Das ist die Bindung über Gleichheit. Denn jetzt kann der Säugling krabbeln und außer Hör- oder Sichtweise der Eltern gelangen. Die zweite Bindungswurzel befähigt ihn, die Bindung zu Mama oder Papa aufrechtzuerhalten, indem es sich über Gleichheit bindet. Es will sein wie sie, will sprechen wie sie (hier ist der Ort des Spracherwerbs). Das Kleinkind fühlt sich uns nahe, wenn es erfährt, dass es dieselbe Augenfarbe hat wie wir, das gleiche Lieblingsessen, die gleiche Lieblingsfarbe und so fort. Es ahmt uns daher in vielem nach.
- Geht alles gut, kann sich im dritten Jahr die dritte Wurzel heranbilden. Denn durch das zarte Aufkeimen der Individuation macht das Kind die Erfahrung, dass es nicht in allem gleich ist, wie seine Eltern (das ist eine Trennungserfahrung). So benötigt es eine neue Weise, sie nahe zu halten. Das ist die Stunde der Loyalität! Jetzt ist das Kind auf unserer Seite, es will uns gefallen – wie schön. Erfährt es genug Loyalität und Nähe von seinen Eltern, sodaß die Wurzel ausreifen konnte,
- kann im vierten Jahr die vierte Wurzel wachsen: Hier dreht sich alles um Wertschätzung. Warum? Dem Kind dämmert jetzt, dass Mama oder Papa sich um alles kümmern, was ihnen besonders wichtig ist. Wertschätzung ist darum das, wonach es sich nun am allermeisten sehnt. Wir können ihm jetzt nicht oft genug sagen, wie sehr wir uns auf seine Geburt gefreut haben, wie wichtig er oder sie uns ist.
- Geht die Entwicklung weiter, so kann im nächsten Jahr die fünfte Wurzel ausgebildet werden. Jetzt ist das Kind in der Lage, sein Herz zu verschenken. Und es schenkt es denen, die es liebt. Buben wie Mädchen malen in dieser Zeit so viele Herzen und bekunden uns ihre Liebe – da geht auch unser Herz auf…
- Ist diese Wurzel ausgebildet und werden weiterhin die Bindungsbedürfnisse des Kindes genährt und gestillt, kann sich die sechste Wurzel heranbilden (frühestens im sechsten Jahr). Jetzt verspürt das Kind das große Bedürfnis, auch den Inhalt seines Herzens mit uns zu teilen. Es will keine Geheimnisse vor uns haben, denn Geheimnisse wirken trennend. Darum will es sich uns anvertrauen, auch seine innersten Gedanken. Es sehnt sich danach, von uns gekannt und verstanden zu werden. Denn dadurch fühlt es sich uns ganz nahe. Die fünfte und die sechste Bindungswurzel befähigen uns, unsere Bindung auch bei räumlicher Trennung aufrecht zu erhalten.