Ganz zu lieben!
75. Brief
Liebe Leonie,
„Rupert und ich, wir beide genießen es sehr, uns so auf einander einzulassen. Gemeinsam und im Takt der Musik diese oft schweren Figuren zu tanzen, lässt einen Zusammenklang entstehen, der unbeschreiblich ist:“ so erzählte ich in meinem 17. Brief „Dynamik der Hingabe“, wie mein Mann und ich durch das Tanzen mehr zu einander gefunden haben.
Ganz zu lieben!
Doch es gibt noch mehr Aspekte und Vorgehensweisen, um Ganz zu lieben, die Liebe der Hingabe lernen zu können. In der wunderbaren Novelle „Der spanische Rosenstock“ von Werner Bergengruen, entdeckte ich diesen für mich überaus lehrreichen Gedanken: „Es muss wohl jeder von uns eine Schuld an allem Geschehen haben, wenn wir diese Schuld auch nicht deutlich zu erkennen vermögen. Und vielleicht soll ein Tropfen Schuld in jedem Becher Liebe sein. Denn wohl erprobt sich die Liebe in der Treue, aber sie vollendet sich erst in der Vergebung.“
Ehrlich gesagt, ich fühle mich bei diesem Satz persönlich ertappt. Wie oft suche ich die Schuld nur beim anderen. Wie oft war ich wehleidig, beleidigt und fühlte mich nicht anerkannt, wenn der andere meine Aufmerksamkeiten, meine investierte Zeit und meine Hilfestellungen nicht so wertschätzte, wie ich es mir wünschte.
Schuld?
In unserer Bibelrunde sprachen wir kürzlich über dieses Thema und ich erkannte, dass auch ich an vielen Situationen Schuld trage. Aber vielleicht braucht jede Beziehung, jede Liebe genau diesen Tropfen Schuld. Den nur so kann ich, können wir alle uns in der Vergebung üben. Denn ich bin tief in meinem Herzen davon überzeugt, dass Vergebung eine der königlichsten, christlichsten und auch schwersten Disziplinen in unserem Leben ist.
„Bitte Vater vergib ihnen…!“, Lukas 23, 34 waren Jesu letzte Worte und in dem Gebet, das er uns höchstpersönlich aufgetragen hat, Matt. 6, 5-15 bitten wir täglich: „Vater vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“.
So erkenne ich, dass „Ganz zu lieben, wie Karolin Wehler Referentin der „Theologie des Leibes“ sie nennt, auch die Liebe ist, in der meine Schuld und deine Schuld Platz haben, damit diese „Ganze Liebe“ durch die Vergebung vollendet werden kann.