Zeitdruck!
39. Brief
Liebe Leonie,
für sich selbst einstehen. Im Studiengang Leib-Bindung-Identität lernte ich, was Selbstdifferenzierung bedeutet. Selbstdifferenzierung ist sich selbst in seinem Personsein zu erkennen, die eigenen Emotionen wahrnehmen, die momentane Situation rational zu bewerten und auch Intimität, Beziehungen leben zu können. Immer im Bedacht auf den Nächsten. Wie Martin Buber so schön beschreibt: „Am Du werden wir erst zum ich!“
Emotionen, Rationalität, Autonomie und Intimität heißen die vier Säulen der Selbstdifferenzierung.
Für Dich, liebe Leonie, sind in Deiner schwierigen Situation alle vier von Bedeutung. Doch Rationalität und Autonomie kommen mir vorrangig vor.
- Autonomie: Seine Ich-Position wahren, aber auch die Bedürfnisse Anderer zulassen.
- Rationalität: unabhängige Situationen rational balancieren und dabei aber Gefühle nicht unterdrücken.
Für sich selbst einzustehen, heißt für mich, meine Autonomie also meine Ich-Position zu verteidigen und zu wahren und das im Hinblick auf die Bedürfnisse meiner Nächsten. Meine Freiheit geht soweit, wo die Freiheit des Anderen anfängt.
Um die eigene Situation richtig wahrzunehmen ist es wichtig, sie rational zu balancieren, rational auszuloten. -Anders ausgedrückt: einen Realitätscheck durchzuführen. Sich mit Fakten, Ereignissen, Zeitabläufen und Informationen zu befassen. Dabei darf ich aber meine eigenen Gefühle nicht außer Acht lassen. Darum sind gerade in Notsituationen diese beiden Tools, Rationalität und Autonomie besonders bedeutsam.
Liebe Leonie, mit meinen nunmehr 53 Jahren hatte ich schon viele schwierige Situationen zu bestehen. Auch eine ungeplante Schwangerschaft war dabei. Was mir letztendlich wirklich half, war die Unterstützung meines Mannes, meiner Mama und oft auch die Hilfe von ganz fremden Personen. Jeder unterstützte mich auf seine Art und Weise. Der Spruch, „auf den Boden der Realität zurückholen!“, wirkte bei mir immer Wunder und öffnete neue Wege. Für mich persönlich waren Zeit, Rationalität, Autonomie und die Unterstützung vieler Menschen in meinen schweren Zeiten meine Rettungsanker.
Ich glaube, dass alle Menschen in Konfliktsituationen und im Besonderen Frauen im Schwangerschaftskonflikt, in erster Linie Zeit brauchen, um als Personen in ihren schwierigen Lagen gesehen und wahrgenommen werden zu können. Wenn die Frauen nicht gesehen werden, werden sie abtreiben, erklärte mir eine Beraterin.
Auch die neue Bürgerinitiative Fairändern setzt sich dafür ein, dass den Frauen mehr Zeit zugesprochen wird. Fairändern will eine mindestens dreitägige Bedenkzeit zwischen Anmeldung und Durchführung eines Schwangerschaftsabbruches, wie es auch bei anderen operativen Eingriffen üblich ist.
Liebe Leonie, der Mensch entwickelt sich nicht zum Menschen, sondern als Mensch. Und aus diesem Grund müssen wir für jedes Leben kämpfen, denn: „In unserer Gesellschaft sollte das Ja zum unermesslichen und unverletzlichen Wert jedes Menschenlebens, das seinen Anfang bei der Zeugung nimmt, überall präsent und auch kommuniziert werden.“ Tagespost.
Bis zum zehnten September